Blinde Flecken aufdecken, Teilhabe gestalten – über die Arbeit der Erinnerungswerkstatt

1. Ausgangspunkt & Interessen
Warum sind die Perspektiven von Einwanderern und Einwanderinnen nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses? Wie entwickeln wir eine erweiterte deutsch-deutsche Geschichtsschreibung, die national geprägte Denkmuster reflektiert und damit Rassismus und Ausgrenzung entgegenwirkt?
Diese Fragen sind Leitmotiv eines seit 2008 arbeitenden Werkstattprojekts an der Leibniz Universität Hannover, in dem das Thema „Geteilte Geschichte – Erinnerungen von Eingewanderten aus Ost und West“ in seinen verschiedenen Facetten beleuchtet wird.
Die Arbeit der Erinnerungswerkstatt verläuft auf zwei Ebenen, die miteinander verwoben sind: Forschung zum Themenkomplex „Einwanderung, Erinnerung und Zugehörigkeit“ und Kooperation mit außeruniversitären interkulturell arbeitenden Personen und Institutionen, aus der sich Impulse für weitergehende Initiativen entwickeln. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Kooperationen mit Migrantenorganisationen aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen sowie Einrichtungen der Bildungsarbeit und Museen.

Ausgangspunkt der Forschungsarbeit waren Fragen des „Geschichte-Machens“. Bei der Reflexion der Frage, wer warum wie repräsentiert ist, geht es immer auch um Fragen der Konstruktion von Differenz als konstituierendem Bestandteil der herrschenden Geschichtsschreibung. So hat die Bewegung „Geschichte von Unten“ am Beispiel von Frauen und Arbeitern die Alltagsgeschichte von diskriminierten Gruppen erforscht und dargestellt. Eine vergleichbare Auseinandersetzung mit der Repräsentanz von „Ethnisch – Anderen“ hat bisher nicht stattgefunden.

Ein in der Öffentlichkeit breit diskutierter Beitrag zu der Debatte um eine gemeinsame Geschichte war die Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. Er stellte die Frage nach Identifikationsquellen in einer Einwanderungsgesellschaft:
„Was bedeutet Geschichte als Quelle für Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? Wie kommt es zu einem ‚Wir’ in einer solchen Gesellschaft? Muss es viele Geschichten geben oder müssen sich die Vielen die eine Geschichte zu eigen machen?“ (2002)
Diese Alternativstellung galt damals als Meilenstein für die Debatte. Allerdings enthält die Aussage zwei Prämissen, die wir für fragwürdig halten:
1. Die vielen Geschichten stehen isoliert oder beziehungslos nebeneinander.
2. Es gibt eine einheitliche (National-)Geschichte.

Die Diskussion in der Arbeitsgruppe fokussierte sich zunehmend auf die Frage, ob unter globalisierten Bedingungen überhaupt eine einheitliche Geschichte möglich ist. Wir formulierten daraufhin diese die Arbeit leitende Hypothese:
Erinnerungskultur hat eine intergenerationelle Dimension, das heißt unter globalisierten Verhältnissen: Die Erinnerung der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist von den ideologischen, ethnischen, nationalen und religiösen Denkmustern des 20. Jahrhunderts geprägt. Die Gedächtnislandschaft der (gebildeten) „Generation Global“ hierzulande orientiert sich an transnational und transkulturell entgrenzten Erinnerungsorten. Historische Identität bildet sich tendenziell kosmopolitisch in der geteilten Überzeugung, Gewaltverhältnisse zu überwinden und für Menschenrechte einzutreten. Sie schließt eine Koexistenz der vielen, besonderen Geschichten nicht aus, sondern ein.

2. Erkenntnisgewinn
Am Anfang stand die Reflexion der eigenen „Gedächtnislandschaften“. Im Anschluss daran entwickelte eine Gruppe einen Fragebogen zu Aspekten von „Erinnerung“ und „Erinnerungsorten“, eine andere ein Leitfadeninterview zum „Mauerfall“ (2009). Damit reagierte die Erinnerungswerkstatt darauf, dass in der öffentlichen Aufmerksamkeit rund um das 20-jährige Jubiläum die „migrantische“ Perspektive (fast) nicht vorkam.
Die Auswahl der befragten Personen war nicht repräsentativ und orientierte sich an den Zugangsmöglichkeiten der Mitwirkenden. Beide Verfahren erfüllen keine wissenschaftlichen Standards. Einige Tendenzen in den Aussagen zum Mauerfall seien hier dennoch zusammengefasst:
1. Zugang und Deutung des Mauerfalls sind sehr stark gefärbt durch die biografische Situation, sei es durch die politische Überzeugung, seien es (geografisch-) herkunftsspezifische Zusammenhänge. Bei den Älteren kommt stärker ein emotionaler Bezug zum Ausdruck, der Zugang der Jüngeren ist eher intellektuell.
2. Der Mauerfall wird von allen Befragten mehrdimensional, teilweise gegenläufig, bewertet. Zwar finden sich viele Aussagen, die auf eine Assoziation „Zugewinn an Freiheit“ hindeuten, dies wird aber kontrastiert, eingeschränkt, relativiert durch andere Aspekte wie z.B. die Unsicherheit der wirtschaftlichen Situation, Utopieverlust, Nationalismus, Hegemonie. Als Lernerfahrung zieht sich durch fast alle Interviews der Appell zur Wachsamkeit für gesellschaftliche Entwicklungen.
3. Nicht eindeutig auszumachen ist, inwieweit die Befragten den Mauerfall als Ereignis „der Deutschen“ wahrnehmen. In einem Interview heißt es: „Die Deutschen freuten sich!“ Möglicherweise sehen die Befragten das Ereignis stärker in einem weltpolitischen Kontext.
Andere Studien (z.B. Nevim Çil) und auch die Interviews, die eine Gruppe von Studentinnen der LUH im späteren Verlauf des Projektes führte (2014), unterstreichen dagegen die These, dass Eingewanderte den Mauerfall und den Vereinigungsprozess eher aus der Beobachtungsperspektive und teilweise als Verunsicherung und Bedrohung wahrgenommen haben.

3. Öffentlichkeit
Anliegen der Arbeitsgruppe war und ist auch, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen und die in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit tätigen Institutionen zu einer Auseinandersetzung mit der Thematik anzuregen. Die erste Veranstaltung „Wir sind (auch) das Volk“ in der VHS Hannover (November 2009) verstanden wir als Kommentar zum offiziellen Gedenken. Und mit der Einladung eines Zeitzeugen aus Magdeburg haben wir explizit die „Ost-Perspektive“ einbezogen, die in Hannover bzw. im „Westen“ kaum eine Rolle spielte.
Der anschließende Fachtag in Magdeburg: „20 Jahre Deutsche Einheit aus der Sicht von Migrant_innen in Ost und West“ (Oktober 2010) vertiefte die Erkenntnisse und Sichtweisen für alle Beteiligten erheblich. Für viele war es die erste Gelegenheit, sich jeweils mit der „anderen“ Geschichte vertraut zu machen. Darüber hinaus griff er die Verantwortung von Politik und Medien auf: Wie können diese Institutionen zu einer mehrperspektivischen Darstellung und Deutung beitragen? Der Fachtag machte gleichzeitig die Notwendigkeit einer nachhaltigen Dokumentation deutlich. Dies war das wesentliche Ziel der Arbeit in den vergangenen Jahren und wird mit dem Projekt „25 Jahre Mauerfall – 25 Jahre geteilte Geschichte“ realisiert.

4. Fazit & Ausblick
Die Arbeit der Erinnerungswerkstatt in der bisherigen Konstellation wird mit diesem Projekt beendet. Der Prozess geht aber weiter. Die vielschichtigen Erkenntnisse und Erfahrungen sind multimedial dokumentiert und können als Ausgangspunkt für weitere Fragestellungen und Anschlussprojekte sowohl zu Fragen der Theoriebildung wie auch zur gesellschaftlich-politischen Arbeit dienen. Ein Überblick:
1. Die Dokumentationen in diesem Internetportal sind eine Informationsquelle für Zeitgeschichte und können als Material für weitere (Bildungs-)projekte genutzt werden.
2. „Mauerfall mit Migrationshintergrund“: Dieser Text im Deutschlandarchiv der Bundeszentrale für politische Bildung (Online) bietet eine zusammenfassende Reflexion der Arbeit. Er geht vor allem auf die unterschiedlichen Folgen der Einheit für die Einwanderer_innen in Ost und West ein.
3. Im Rahmen der Interkulturellen Woche 2015 unter dem Motto „Vielfalt. Das Beste gegen Einfalt.“ wird in Sachsen-Anhalt eine weitere größere Fachtagung mit dem Schwerpunkt „3. Generation“ stattfinden, in deren Rahmen die Diskussionen der Erinnerungswerkstatt fortgeführt werden.
4. Schrader/Joskowski/Diaby/Griese (Hrsg.): Vielheit und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik. Bildung in der Weltgesellschaft 8, Brandes & Apsel 2015.
ISBN: 9783955581602

Der Band – ein Arbeitsergebnis der Erinnerungswerkstatt – diskutiert neuere Forschungserkenntnisse und untersucht, warum die Sichtweisen von Eingewanderten aus Ost und West, die kaum Eingang in Gedenkfeierlichkeiten, Geschichtsbücher und das kollektive Gedächtnis gefunden haben, in ein neues, inklusives Narrativ des »Deutschseins« eingebunden werden müssen und welche Ansätze es dafür gibt.
Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen diskutieren Fragen von Teilhabe und Ausschluss, von Identität und gesellschaftlichem Zusammenhalt: interdisziplinär, politisch und praktisch. Es geht darum, »Erinnerungskultur« in »Erinnerungspolitik« zu überführen und zu einem Feld der Auseinandersetzung um Partizipation(-smöglichkeiten) marginalisierter Gruppen zu machen.

radio flora bespricht die Veröffentlichung ausführlich in einem Podcast, den Sie hier anhören und herunterladen können.